Der Spielplatz
- Daniel Costantino
- 4. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Jahrein, jahraus schieben sie Steine hin und her über ein vorgezeichnetes Feld. Drei ineinandergeschachtelte Quadrate am Boden, die sich durch Linien mannigfaltig miteinander verbinden. Immer zwei duellieren sich, die übrigen schauen zu. Sie spielen bei Hitze und sie spielen in der Kühle. Selbst im kältesten Winter, es wäre denn viel Schnee gefallen, sind ein paar Unentwegte da und halten die Stellung. Jeder Kontrahent hat neun Steine. Wechselweise wird erst gesetzt und dann gezogen. Es gewinnt, wer durch kluge Züge und gewieftes Taktieren dem andern mehr Steine rauben kann als dieser ihm. Wenn der drittletzte fällt, ist die Partie entschieden, aber auch, wenn es gelingt, des Gegners Steine so zu umzingeln, dass er sie nicht mehr bewegen darf. Es braucht ein geübtes Auge und manch gekonnten Dreh, um zu reüssieren und sich nicht im Dickicht der Linien zu verfangen. Eine Finte, die dem Gegner gilt, kann sich schnell ins Gegenteil verkehren und dem Angreifer selber schaden.
Ein ruhiger Ort. Die Zuschauer unterhalten sich über diese oder jene Stellung, einen verpatzten oder gelungenen Zug. Aber man ergreift nicht lauthals Partei. Ist ein Spiel zuende, nimmt das Paar den Ausstand und ein anderes macht sich mit Mühe daran, die Steine wieder in die Ausgangsposition zu stellen und eine neue Partie zu beginnen, die über eine Stunde dauern kann und nicht selten unentschieden endet oder mit einem dummen Erschöpfungsfehler eines der Akteure. Es gibt Spieler, die haben es darauf angelegt, einen Match in erster Linie nicht zu verlieren. Sie sind stets darauf aus, die Sache in die Länge zu ziehen. Sie getrauen sich nicht, aus einer gewinnträchtigen Stellung Kapital zu schlagen, weil sie fürchten, dabei einen Konterzug des Gegners zu übersehen. Sie spielen ihre Betontaktik, ihre Strategie des Mauerns stur in allen Partien und ändern nie etwas daran. Nie haben sie siegen gelernt. Sie haben immer den Schaden in Grenzen zu halten gesucht. Keiner kann sie in Versuchung führen. Ihre Grösse ist die ausgeglichene Bilanz.
Wer hinzukommt, gehört dazu. Ein paar Bäume ringsum, Büsche, ein kleiner unauffälliger Park am Rande der Stadt. Zwei drei verlassene Vogelnester im dürren Geäst. Bänke in einigem Abstand zum Feld, eine Handvoll Stühle verschiedener Herkunft. Ein Kasten des städtischen Bauamts, worin die Steinklötze nachts eingelagert werden, um sie vor der Witterung zu schützen. Physiognomien alter Eulen, mildgewordener Hitzköpfe, zerfurchter Denker. Ab und zu taucht ein Neuer auf, ein anderer ist still und in sich gekehrt nachhause gegangen. Manche tragen Hüte, unter denen wenig weisses Haar seine Zuflucht hat, und dunkle Anzüge, die sie in Schuss halten, so gut es geht. Man raucht Zigaretten und zerquetscht die Schippen am Boden. Oder man holt eine Pfeife aus der Tasche, prüft das Holz, stopft mit Nachdruck den Kopf, entfacht sie unter dicken Schwaden und schmaucht und raucht im bedächtigen Ernst. Einer klaubt eine Brissago hervor, nestelt nach Feuer und führt mit abgeschrägtem Rumpf die Flamme zum Stiel. Die andere Hand hält er schützend vor. Dann zieht er kräftig und mit langen Zügen am Kraut. Der kalte Stummel landet schliesslich im hohen Bogen in den Büschen. Von Zeit zu Zeit ein schnattriges Röcheln aus Altmännerbrüsten, ein Hüsteln, wenn die Brissago bitter geworden ist, ein prägnantes Ächzen, wenn einer die Pfeife an der Banklehne oder auf dem Schuhabsatz ausklopft. Die Stehenden pflanzen sich breitbeinig hin oder stützen sich schmal auf den Stock, lehnen sich an einen Kübel oder gegen einen Pfosten. Man wartet lange darauf, spielen zu können, oft vergebens. Man hat Geduld genug und muss nichts mehr beweisen. Die Gebrechlichen dürfen von Anfang an sitzen. Am Stock gebeugt und schlurfend kommen sie an, schlurfend und gebeugt gehen sie, wenn ihre Zeit gekommen ist.
Hände voller Schwielen oder von knöcherner Eleganz, die erst zögernd nach dem Griff am Steinklotz langen, den Stein eine Weile in der Luft halten, von der einen zur andern wechseln, knapp überm Knie in schlechter Haltung des Kreuzes oder über der Brust auf imposanter Kinnhöhe, jenach Temperament und Stellung im Match, und wie er dann auf einmal unschlüssig baumelt zwischen Für und Wider einer ausgeklügelten Strategie, eines neugefassten und wieder verworfenen Planes, zurück auf den Boden gestellt, plötzlich mit zupackendem Griff erneut gehoben und auf die entscheidende Stelle im Feld geknallt wird oder unauffällig hingelegt, resigniert, als könnte er dem Gegner nicht schaden und wäre die Partie schon verloren. Schalk in den Augen jener, die das Manöver durchschauen, die Falten und Dellen glätten sich, die Wangen kriegen Farbe, als würde eine liebende Mutter sie kosen. Wenn nun Paroli geboten wird und die Spannung mit einem gewagten Konter ihren Höhepunkt erreicht, kommt Bewegung in die alten Leiber. Manch einer schlägt im Sitzen einen nervösen Takt. Ein Fussballen bäumt sich auf und verharrt in der Position, dass er zu zittern beginnt und sich die Vibration auf die Wade und bis zum Knie überträgt. Ein Paar Füsse wetzen kreisend den Boden als wären sie Scheuerlappen, die Schienbeine baumeln hinundher wie zwei ungleiche Pendel einer Wanduhr. Die Stehenden indes haben angefangen, mit den Füssen zu wippen, auf den Kanten ihrer Schuhe zu balancieren, mit wackligen Schenkeln oder mit den aufgestülpten Handrücken in den Hosentaschen das Gleichgewicht zu halten. Ein gutgenährter Bauch tut ein Gleiches und spannt sich und schaukelt ein wenig mit. Wer Hosenträger hat, hält sich an den Riemen fest und beginnt zupfend ein paralleles Jojospiel, ohne dass er selbst es gewahrt, wer einen Schirm, schmirgelt mit der Spitze den Boden ab, ein schabendes, ungeduldig suchendes Geräusch. Einer putzt sich die tropfende Nase, und einer wischt die beschlagene Brille frei. Auf den Bänken und Stühlen verrenken sich Handgelenke, knacken brüchige Finger und pressen sich Kniepaare gegeneinander. Eine Hand schlüpft wie ein Fisch durch die schlotternde Hose und kratzt sich das Bein, eine andre langt sich ans Ohr oder unter den Hut. Ein Greis kaut in seinem zahnlosen Mund eine imaginäre Kost. Ist der Sieger erkoren, applaudiert man und stampft mit dem Fusse oder mit einem kantigen Klöppeln des Stocks.
Einige pflegen Schrullen, sagen, wenn sie überhaupt etwas sagen, immer dieselben paar Worte, haben ihrem langen Leben über fünf oder sieben Worte hinaus nichts hinzuzufügen. Einer, der hat dutzende schwieriger Stellungen aufgeschrieben und hunderte daraus resultierender Kombinationen und die seiner Meinung nach besten Zugmöglichkeiten ausgetüftelt und herausgefunden, in welchen Fällen man sie anwenden kann und in welchen Fällen nicht. Und auch die hat er säuberlich in Schulhefte notiert und akribisch in einzelnen Kapiteln festgehalten, mit Skizzen und Zeichnungen in genauem Massstab versehen und alles auf eine Bank getragen und in einen Safe verwahren lassen. Ein Spitzenspieler, ein Kranzschwinger, wie man hier sagt. Immer noch erfindet er neue Varianten hinzu, zuhause am Küchentisch, noch raffiniertere Züge, widerlege, so geht die Rede, selbst unumstössliche Positionen. Aber das halte er geheim, das soll nach seinem Ableben in Buchform erscheinen, es sei schon alles mit einem Notar abgesprochen. Gerne lässt man ihm den Vortritt, wenn er auf dem Platz erscheint. Dann spielt er auf wie eine von langen Fäden energisch geführte Marionette. An der hochgezogenen Schulter bewegen sich die steifen Arme diagonal zu den hölzernen Beinen: hebt er einen Stein auf mit jähem Schuss nach vorne, vollzieht ein Bein dieselbe abrupte Bewegung übers Kreuz nach hinten ins Leere. Setzt er ihn aber am Boden ab, legt ein Bein synchron wie im Passgang einen zweiten als unsichtbaren Schatten hin. Der unwirsch verspannte Nacken, der eingeengte Kopf, der O-förmig geöffnete Mund, sein kleiner, spitz hervorstehender Bauch verleihen ihm im ganzen die Gestalt eines verschreckten Känguruhs.
Sie sind längst pensioniert und machen keine grossen Sachen mehr. Sie frönen ihrem kleinen Hobby an der frischen Luft. Manche kommen jeden Tag, andere zwei- oder dreimal die Woche. Es wird gespielt, bis es dunkel wird und man die roten Steine nicht mehr von den schwarzen unterscheiden kann. Gelegentlich fällt auf, dass einer nicht mehr kommt. Dann beschliessen die Rüstigen, ihn im Spital zu besuchen, oder sie sammeln etwas Geld zusammen für einen Kranz. Es ist ein abgeschiedener, friedlicher Ort, ein paar Bäume, die im Sommer blühen, ein paar Büsche ringsum, und ein strahlender oder wolkenbehangener Himmel sein redlicher Patron.


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