top of page

Morgensturm

Aktualisiert: 28. Okt. 2021

Immer wieder und insbesondere dann, wenn man denkt und fühlt, man sei für den Rest seines Lebens unendlich fortwährend im immergleichen Trott gefangen, der sich morgens zeigt im ersten metallischen Wimpernschlag, im schrillen Schrei und der misslaunigen Fratze des Weckers, im emotionslosen Kaltstellen innerer Widerstände, gerade dann ­– und so passierte es mir neulich – schlägt die kosmische Stunde zwölf Uhr und wirft einen aus den ewigen Jagdgründen der Routine zurück in eine Gegenwart, die den Namen Leben verdient. Finster und mild wie im Innern einer Kuh war es zu dieser frühen Stunde im Spätherbst, als ich den ersten Schritt vor die Haustür wagte, vergebens Zeichen einer Dämmerung suchte, doch die erste Überraschung, sie kam sogleich, ja es schien, als ich mich auf den Weg zur Arbeit machte, alles anders, wenn auch nicht sofort, nicht ausgewechselt auf Donnerschlag – der Veränderung wurde ich langsam gewahr, dafür tierschürfend und verheissungsvoll. Ein kräftiger Wind umgarnte mich wie warmes Wüstengras, trug das Flöten einer Nachtigall aus dem Wald am Hügel zum Hinterland in das stille Quartier am Stadtrand. Und auf dem Briefkasten, den ich beim Öffnen des Gartentors passierte, da sass eine schwarze Katze. Ein Anflug von Panik liess mich zurückweichen und erbeben, denn die Katze, sie war nicht ein putziges Haustier, eine lebendige Dekoration gewissermassen, nein, sie war real gegenwärtig, ihr Bewusstsein, es forderte mich heraus, sie starrte mich böse an, mahnend, weise und funkelnd gelb ihre Augen. Schweigend sahen wir uns an, nur der warme Wind leistete uns Gesellschaft. Plötzlich öffnete das Tier seinen Mund, der einem kleinen Schlund glich, in dessen Abgrund die wahre Dunkelheit zu wohnen pflegt, und die vier Fangzähne funkelten mir bedrohlich entgegen. Um die ferne Melodie der Nachtigall wickelte sich ein dumpfes Grummeln aus dem Rachen der Katze, es schien, als wolle sie mir etwas sagen – oder hatte sie einfach einen Knall? Die Absurdität der Situation stieg mir in den Kopf, ich verscheuchte das Viech erfolgreich mit einem zischenden Laut und machte mich auf den Weg zum Bahnhof, während der Sturm seine Kraft langsam und erst recht zu entfalten schien, heulend durch die Strassen, knisternd entlang der Häuser, klempernd und scheppernd über die städtischen Mülltonnen zog. Der Orkan begrüsste diesen Tag, der sich erst in einem fahlen dunkelblauen Schimmer anpries, fegte den Alltag hinweg, bevor er überhaupt hätte beginnen können, ja man wäre auch ohne die misslaunige Fratze des Weckers aufgestanden, denn der Sturm, er liess mich durchs Quartier gehen, sanft und weich, ähnlich dem Gehen in warmen Stiefeln im Neuschnee und mir wurde bewusst, dass bereits viele Menschen unterwegs waren, doch wie ich waren sie anders, beseelt von etwas, das ich noch nicht zu greifen vermochte. Als ich den Bahnhof erreichte, wo anderntags zu dieser Stunde routinierte Hektik und nerviges Treiben die Szenerie beherrschte, zügig die Rolltreppe hinauf zur Rampe ging, von der aus die Wege zu den einzelnen Geleisen führten, da standen die Menschen wie am Boden verwurzelt und starrten auf die Anzeigetafeln, die verhiessen, dass kein Zug diesen Bahnhof verlassen würde. Der Sturm, der inzwischen auch den metallnen Überbau des Gebäudes erfasste, erschütterte und zum Ächzen brachte, er hatte den Bahnhof zu einem Ort der Gestrandeten gemacht. Und den Leuten, ihnen musste der Sturm in den Kopf gestiegen sein, denn sie ergaben sich nicht missmutig ihrem Schicksal, sie beschimpften nicht die Frechheit der Natur und oder die Störungsanfälligkeit der Eisenbahn. Nein. Die Menschen, die auf den Bahnsteigen warteten – lange warteten – bis das Warten einer Existenz gleichkam, sie schienen den Moment wohlig zu begrüssen, wie man einen Freund willkommen heisst, der unerwartet auf Besuch kommt. Die Luft wurde erfüllt von einem Rausch, einem Knistern – wäre ich ein religiöser Mensch, der Morgensturm wäre mein Fegefeuer oder Erweckungserlebnis gewesen. Es war nicht mehr wichtig, was sonst war, ein Exzess des Augenblicks, eine kosmische Stunde, wenn der zerlumpte und vom Leben gezeichnete Mann, der auf dem Bahnhof genächtigt hatte, nun hemmungslos auf die Geleise pisste, ein kleines Mädchen an Mutters Hand mit dem Finger zeigte, fröhlich draufloslachte und der Kerl von Sicherheitsdienst den Penner freundlich so nebenbei darum bat, es nächstes Mal doch auf der Toilette zu versuchen, denn um diese Zeit hätten bereits welche geöffnet. Es war wie eine Welle des Friedens, die alle bis auf die Knochen erfasste. Ich schlenderte auf dem Bahnsteig also gemütlich auf und ab, wagte einen Ausreisser bis ans äusserte Ende der Bahntrasse, wo sich der freie Himmel wieder über mir öffnete und eine helle Scheibe tat sich vor mir auf, deren Licht mich zu verschlucken drohte. Der Vollmond, von dem ich bis zum Augenblick keine Kenntnis nahm, der plötglich und einfach da war, er funkelte in den Geleisen, letzte Windböen zitterten durch die Luft. Und als ich mich dem Mond zuwandte, machte ich mir vor Schreck fast in die Hose, denn es war das Antlitz der Katze, das mich aus dem Mond wohlwissend anstarrte. Die Katze im Mond. Der Knall im Morgensturm. Und ich wäre fast in Ohnmacht gefallen, als ich dachte oder zu hören meinte, das Miauen des Tiers aus dem All zu hören. Doch es war nicht die Katze – es waren die Sirenen der Rettungswagen, die aus weiter Ferne durch die Ausläufer des Sturms über die Dächer der Stadt hallten.

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
Lumpensammler-Texte

Der moderne Mensch hat viel zu tun und keine Zeit, Gedanken zu entwickeln. Er ist also darauf angewiesen, dass andere dies vor ihm...

 
 
 

Kommentare

Mit 0 von 5 Sternen bewertet.
Noch keine Ratings

Rating hinzufügen
  • Facebook
  • Twitter
  • LinkedIn

©2020 Reimers Blog. Erstellt mit Wix.com

bottom of page