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Normalsein

Jahrzehntelang bemühte ich mich, so normal wie möglich zu sein, doch es schien, als würde mir das nie ausreichend gelingen. Ich wurde sogar in meinem Eifer zurückgedrängt, den Weg in die Normalität zu gehen, als ein Freund von mir, dem ich von meinem Vorhaben erzählte, sagte: «Du normal? Vergiss es.» Er meinte es zwar gut, quasi auf eine liebe Weise, er schien mich gerade meiner Abnormalität wegen zu mögen, doch trotzdem hallten seine Worte in mir nach, wenn ich wieder versuchte, normal zu sein.


Aber was bedeutet es eigentlich, normal? Es würde wohl heissen, nicht anzuecken, sich etwa, stösst man neu zu einer Gruppe, so zu geben, dass man zwar physisch da ist, freilich auch das eine oder andere in Form einer Wortmeldung beiträgt, dies aber auf eine Weise tut, wie es auch ein anderer, der bereits bei der Gruppe ist und in dieser als normal gilt, tun würde. Nun hat der, welcher ein halbwegs normales Dasein führt, im Leben meist mit mehreren Gruppen zu tun und die Kunst des Normalseins würde somit darin bestehen, den Kompass stets nach der Normalität der jeweiligen Gruppe, in der man sich gerade aufhält, auszurichten. Das setzt voraus, dass man nicht mit der Tür in die Gruppe fällt, erst einmal wenig sagt, stattdessen seine Fühler ausstreckt und erkundet, wie man sich hier so zu benehmen hat. Allerdings sollte diese anfängliche Phase der Tuchfühlung auch nicht zu lange dauern, weil man sonst rasch in die Ecke des Introvertierten, ja des Aussenseiters gestellt wird und ist man erstmal dort, stellt es sich äusserst schwierig dar, da wieder rauszukommen. Introvertierte gelten nämlich als nicht normal, und dies sogar auf eine unsympathische Weise: Bei ihm, dem Introvertierten, wittert man einen Arroganten, einen, der sich für etwas Besseres hält. Also ist es keinesfalls eine Lösung, einfach nichts zu sagen.


Nun ist es bei mir aber so, dass der Grad der Nichtnormalität gerade dann ansteigt, wenn ich viel rede, mir die Worte einfach aus dem Mund sprudeln. Und selbst wenn ich meine Fühler ausfahre, meinen Verhaltenskompass zu justieren versuche, lande ich, bevor ich mich versehe, in der Ecke des Nichtnormalen. Das wiederholt sich, wie schon erwähnt, seit Jahrzehnten, und weil es nicht so weitergehen sollte, habe ich mir einen Ruck gegeben und versucht, mein Verhalten von aussen zu beobachten. Dabei kam es tatsächlich zu einer Art persönlichen Zeitenwende, weil ich erkannt habe, dass meine Bemühungen, normal zu sein, von vornherein für die Katz waren. Es scheint, als trage ich etwas an mir, dass es ganz und gar unmöglich macht, normal zu sein – ich kann schweigen, reden, versuchen, nur von Dingen zu plaudern, die unverfänglich, ja sogar langweilig sind. Jedoch bleibt es dabei: Ich bin nicht normal. Allerdings fühle ich mich, seit ich mit meiner Abnormalität im Reinen bin, viel normaler.

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