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Von der Angst, das Falsche zu sagen

Was darf man noch sagen in diesen Zeiten? Was soll man noch sagen? Oder macht es überhaupt Sinn, etwas zu sagen? Wäre es nicht besser, sich einfach auf die schönen Dinge im Leben zu konzentrieren, und über das, was es zu sagen gäbe, einfach zu schweigen? Freundschaft ist wichtiger als Politik, ich will mich ihretwegen nicht zerstreiten. Dass das aber gar nicht so abwegig ist, hat die Coronazeit doch gezeigt: Ganze Familienteile hatten sich heillos zerstritten und verstritten, manche meiden einander seither ganz oder begegnen sich mit Misstrauen. Was dem einen ein Schwurbler, ein Egoist ohne Sinn für Solidarität ist, kommt dem anderen sogar einem Faschisten gleich: Ein dummes Schaf, das dahintrottet, wenn der Staat Massnahmen befiehlt. Mir persönlich scheinen beide Sichtweisen etwas übers Ziel hinausgeschossen. Seither, dünkt es mich manchmal, teilt sich die Gesellschaft in zwei Teile, und weil jene, die sich noch nicht zerstritten haben, eben nicht zerstreiten wollen, meidet man Politik wie der Teufel das Weihwasser. Eventuell ist ja das, was gerade so auf der Weltbühne passiert, einfach zu kompliziert, zu hoch, als dass es für einen einfachen Bürger möglich wäre, es zu verstehen und dann darüber etwas zu sagen. Da sollte man sich vielleicht in Demut üben, darauf vertrauen, dass die da oben schon das Richtige tun. Die Leute in der grossen Politik sind schliesslich meist Akademiker, die Dinge durchschauen, von denen zum Beispiel ich nur einen Bahnhof verstehe.


Ich habe allerdings letztens versucht, mich etwas schlau zu machen, zum Beispiel in der ganzen Angelegenheit mit Israel. Ein Freund von mir sagte, ich solle das sein lassen, lieber schweigen, es sei ein heisses Eisen. Nun bin ich aber von Natur aus neugierig und gerade, weil der Freund meinte, es sei ein heisses Eisen, ist meine Neugierde angestachelt worden. Ich bin also, um jetzt zum Thema zu kommen, auf einen Artikel gestossen, bei dem es um eine Organisation geht, die International Holocaust Remembrance Alliance heisst und die ursprünglich, in den 1990er-Jahren des letzten Jahrhunderts zum Ziel gehabt hat, das Gedenken an den Holocaust auf der ganzen Welt an die Schulen zu bringen und zu schauen, dass schlimme Dinge wie Rassismus oder Völkermord in Zukunft nicht mehr stattfinden. Nun hat es aber scheints vor ein paar Jahren eine Debatte um den Begriff Antisemitismus gegeben. Während die einen sagen, dass auch der ein Antisemit ist, welcher die israelische Regierung kritisiert, halten die anderen dagegen, dass dies nicht in Ordnung sei, dass also einer, der die israelische Regierung kritisiert, nicht automatisch ein Antisemit ist. In der IHRA, wie die Organisation abgekürzt heisst, hat sich nun aber offenbar durchgesetzt, dass auch der ein Antisemit ist, der die israelische Regierung kritisiert. Ich bin dann auf der Homepage der IHRA schauen gegangen, wo das Ganze etwas genauer beschrieben ist. Da steht, dass man die israelische Politik zwar schon kritisieren darf, aber eben nur auf eine Weise, wie man auch die Politik anderer Länder kritisiert – die der Schweiz zum Beispiel. Hier aber, muss ich sagen, gerate ich etwas ins Grübeln, weil das würde ja heissen, dass man Israel nur kritisieren darf, wenn das Land Dinge tut, welche zum Beispiel die Schweiz auch macht. Von der Schweiz hat es etwa manchmal geheissen, sie sei eine Rosinenpickerin. Ob Israel ein Rosinenpicker ist, weiss ich nicht, aber wäre es so, ginge das als Kritik durch, die man ohne Angst, ein Antisemit zu sein, vorbringen könnte. Wenn aber in Israel Dinge passieren, die nicht normal sind, also Politiker dort sagen, die Leute in Gaza seien menschliche Tiere, die man vernichten müsse, dann darf man es nicht kritisieren, weil man dann ein Antisemit ist.


Es gibt ja, wenn ich das richtig gelesen habe, vom Internationalen Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu wegen Kriegsverbrechen, also Aushungern und Vertreiben von Leuten oder Zerstörung der zivilen Infrastruktur und anderer schlimmer Dinge. Demnach wären also die Leute, die im Strafgerichtshof sitzen, alles Antisemiten? Wenn dem so ist, wäre das ja wirklich ein finsterer Haufen, potzdonner. Jetzt verstehe ich übrigens, warum der Friedrich Merz gesagt hat, der Netanjahu könne trotz Haftbefehl getrost nach Deutschland kommen, das sei kein Problem. Weil gerade einem Deutschen Bundeskanzler stünde es ja schlecht an, ein Antisemit zu sein. Ganz vom Antisemitismus reingewaschen ist also der Viktor Orban aus Ungarn, denn der hat nicht nur, wie es der Merz getan hat, gesagt, dass Netanjahu kommen könne, sondern ihn tatsächlich eingeladen.


Wenn man, wie zum Beispiel auch die UNO, zum Schluss kommt, dass die Regierung Israels einen Völkermord begeht, hat man die Wahl: Man kritisiert es und ist also ein Antisemit. Will man aber keiner sein, sagt man nichts und schweigt. Also geht es doch, wie ich zu Schluss komme, in der ganzen Aufregung darum, was man sagen darf und was nicht. Dass in Gaza schlimme Dinge passieren, wird hingegen von niemandem wirklich bestritten. Mir jedenfalls braucht später keiner zu kommen und sagen, man hätte davon nichts gewusst.

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