Die Füsse im Wasser
- Daniel Costantino
- 18. Juni
- 12 Min. Lesezeit
Wie er eintritt vom Trottoir in das Studio hier, in sich gekehrt, spritzt mit dem Klingeln der Tür über ihm auch etwas von der Strasse herein und dem Strudel der Welt, die sich immerfort dreht und sich schon dem kleinen Kind mit der Nasenspitze am Fenster gedreht; ein Aufprall, ein Rufen, ein sägender Fetzen; der Luftzug von Scheiten und Moder; ein ratternder Bus und der Schwall junger Leute, die sich lachend über dem Trittbrett eine Tüte reichen. Aber niemand schaut hin, ins Schaufenster sind streng gebüschelt Fusspflegeprodukte gelegt. Einem, der das Studio verlassen will, stösst er die Tür, bevor sie ganz hinter ihm zugeht, weit mit dem Arm wieder auf. Das weckt ihn aus seiner Gekehrtheit und er sagt bitte und der andere danke über der zugigen Schwelle. Beide treten ein wenig zur Seite, viel braucht es nicht, sind mager und kommen gut aneinander vorbei. Die Tür fällt in die Angel zurück, der eine ist drin, der andere draussen, richtet vor den Fusspflegeprodukten den Kragen. Von der Strasse ist nichts mehr zu hören. Der Bus zieht sein Trittbrett ein, es scheint, dass er aufschnauft, und schliesst die Tür. Die jungen Leute ziehen lachend im Stummfilm davon. Niemand schaut hin. Es hat noch einmal geklingelt.
In Schwaden von Licht, von schneeweissen Zylindern steckt der Laden. Im Lichtstaub milchige Tischchen, Vitrinen, helle Kakteen bis an die Theke, die wie die Skulptur einer Haiflosse aus dem Meerschaum auftaucht. Er wird von arktischen Wellen erfasst, eisblauen Desktops, platzenden Quallen, in Grotten darunter trommelt kalt der Regen von Tastaturen. Und eine Marimba schlägt durch den Raum, er summt mit. Bitte Versicherungskarte! Blütenrein, Aellig steht drauf, Aellig im Lichtbrand dieser Membran. Bitte Versicherungskarte! Darum ist die Marimba jetzt weg. Jetzt reicht er sie her, ohne zu summen. Geburtsdatum? Der Computer speist ein. Über ihm hängt ein Abschlussdiplom. Das Geburtsdatum stimmt. Bitte nehmen Sie Platz.
Zurück durch die Blendung, jemand hustet. Drei Sessel erspäht er, aber da sitzen schon andere drauf, so klotzig und barsch in den milchigen Schalen, dass sie keinen Gruss verdienen. Er stellt sich daneben, spreizt über einem Lichtkegel am Boden wie über einer Pfütze die Beine. An einem Wandhaken hängt eine verschossene Herrenkutte. Jemand hustet und hustet. In den Schalen schnattert ein Handy. Nicht heute Abend, schnarrt es hinein, fast wie das Handy, dann Pause. Zum Znacht denk... dann Pause. Hat es noch eh.. alsotschü... tschüü. Das Gespräch wird aufgelegt und fehlt jetzt im Raum. Aellig gegenüber im Schatten hat es Kabinenverhaue.
Da kehrt sich eine rundliche Frau aus den Kacheln einer Toilette hervor und schreitet durch die grellen Zylinder dem Ausgang zu. Frau Miescher! ruft es über die Desktops ihr nach. Aber die Tür hat schon geklingelt. Nur ein Luftzug bleibt übrig, der sich schnell wieder legt. Aellig verschiebt seinen Stand über der Pfütze. Jemand hustet. Die Herrenkutte müffelt herüber.
Wie geits nech?
Frau Horisberger ist da im mehlstaubweissen Kittel und gibt ihm die Hand. Horisberger, wenn er recht verstanden hat, er kann das Namensschildchen in einer Falte des Kittels nicht lesen. Sie lächelt, ein Lippenstrich zieht sich geschwind in die Breite und wieder zurück. An ihrer Stelle, würde er ähnlich lächeln wie sie? Und sucht nach einem munteren Wort. Doch sie dreht sich schon um und führt ihn durch einen Korridor von Kabinen. Aellig vier Schritte dahinter im Schatten versucht sich zu erinnern. Er war hier schon einmal, zum kurzen Gespräch. Den gleichen Kittel tragen sie alle, aber es gibt nur zwei Spezialistinnen, welche die Krankenkasse bezahlt. Er muss bei Frau Horisberger, wenn sie denn so heisst, oder bei der anderen gewesen sein. Das hilft ihm nicht weiter. Von der Theke her wieder eine Marimba, nun in seinem Rücken. Er lässt das Summen bleiben.
Itz geits de da füre.
Sie sagt es zu ihm, ohne sich nach ihm umzuschauen.
Während er, hinter eine Schiebetüre gebeten, zwischen den dünnen Wänden des Kabäuschens seine Schuhbändel lösen muss und dafür neben dem Patientenstuhl, einem raumfüllenden Koloss, in die Hocke geht, weil schmutzige Sohlen nicht auf den Stuhl gehören und es keinen einfachen Schemel hier gibt; während er knapp ohne zu ächzen von einem Standbein zum anderen wechselt und seine Schuhe freistehend mit den Ferskanten abstreift, richtet sie ihm, zu Füssen des mächtigen Stuhls wie im Knicks, ein Fussbad, betätigt ein Heizgerät, leise summt es, richtet sich auf, spricht in ihr Handy, eilt, noch ehe das Fussbad bereit ist, durch die Schiebetür wieder hinaus, automatisch wird sie geschlossen; aber nicht ganz, Aellig erhascht durch einen Spalt Frau Horisbergers Umrisse im Korridor, ihr aufgrauendes Wesen im Schatten.
Dann setzt mit einem Klicken das Heizgerät aus. Aellig steht still in dem gedimmten, aufmerksamen Licht neben dem Stuhl, der an die Wand blickt, als wäre er kein Stuhl, sondern ein aufrecht im Sitzen erstarrter Kosmonaut. Er könnte die Socken ausziehen, indem er jetzt doch den Fuss auf ihn stellt, aber das Polster bietet keinen sicheren Halt, es fällt zu den staksigen Beinen des Kosmonauten ab, und dessen Gesäss, die sicherste Stelle, versperrt eine breite Armlehne und lässt sich nicht wegdrücken.
Seine Schulter an die dünne Wand zu lehnen, getraut er sich nicht. Sie gibt schon fast nach, als er nur ein wenig mit der Hand an ihr ruckt. Er stellt die Schuhe unter den Stuhl und zwingt sich daneben in die Grätsche, muss auf die Knie, greift mit einer Hand nach hinten, mit der anderen unter die verkantete Stuhllehne, um sich mit dem Handrücken festzumurksen, kehrt sich, wechselt die Grätsche, greift wieder nach hinten und zerrt an der Ferse, dabei schmerzt ihn die Schulter.
In dem Moment, als Frau Horisberger mit dem Handy am Ohr zurückkommt und unter einer Ablage einen Hocker hervorzieht, bleibt die zweite Socke am Zehennagel hängen. Jetzt ächzt er doch, und sie, die dabei in ihr Handy nickt, schaut ihm zu mit dem Hocker in der anderen Hand. Er widersteht dem Versuch, sich an der Wand abzustützen, um leichter an die Socke zu kommen, schafft es auch so und erhebt sich schliesslich mit steifen Beinen wie ein schwankender Clown.
Isch es so rächt?
Sie hat sich auf den Hocker gesetzt und wartet auf ihn, der nun den Stuhl besteigt und die nackten Füsse ins Wasser hält. Das Heizgerät ist auch ein Schemel, er staunt. Ja, die Temperatur ist recht. Das Wasser angenehm seifig. Trotzdem schraubt sie noch am Gerät herum, ohne dass Aellig einen Unterschied spürt. Dann läutet wieder ihr Handy, sie redet, fast ehe sie es am Ohr hat, drauflos, eilt weg, kommt zurück, spricht immer noch ins Handy, fragt etwas Unverständliches hinein und dreht sich, statt sich zu setzen, wieder zur Kabine hinaus. Im Fusswasser treiben warme Bläschen.
Die automatische Tür hat sich jetzt vollständig geschlossen. Vielleicht hat Frau Horisberger etwas nachgeholfen, etwa so, stellt Aellig sich vor, wie er dem Kabel seines Staubsaugers, wenn es sich einrollt, im letzten Moment noch einen Schupf geben muss, damit auch die letzten Zentimeter im Kasten verschwinden. So fühlt auch er sich in einen Kasten geschupft.
Augen zu, denkt er, entspann dich. Was entspannen unter dem horchenden Licht hier auch heisst. Wegdenken das Licht, wie ins eiskalte Wasser steigen ohne zu frieren. Die Handgelenke lockern, so müsste es gehen. Wer die Handgelenke locker hält, spürt die Kälte nicht. Kann sich entspannen. Alles andere wegdenken, nur die Handgelenke locker halten. So kommt die Eiseskälte nicht heran. Und auch nicht das Licht hier. Wer das vermag. Ein Yogagedanke ist das, ich bin ein Yogagedanke, nur dieser Gedanke, sonst vollkommen leer. Er möchte einmal versuchen, in einen Bergsee zu steigen. Was aus einem bestimmten Grund bisher nicht... er fällt ihm nicht ein, aber liegt ihm auf der Zunge.
Das warme Seifenwasser summt.
Warum ist er noch in keinen Bergsee gestiegen, mit lockeren Handgelenken? Um nur ein Gedanke zu sein, nichts als ein Gedanke über dem See.. Ganz wunderbar fliessen die Füsse. Wegdenken das Licht. Anderes denken. Wann braucht man die Redewendung, es liege einem etwas auf der Zunge, und wann stimmt sie nicht? Und eben, warum er nie in einen Bergsee gestiegen ist. Was in seinem Leben ihn eigentlich hindert, in einen Bergsee zu steigen.. nur ein Gedanke zu sein. Damit Kreise zu ziehen.. Ringe im See.. und wo Frau Horisberger bleibt. Wie kommt sie sich vor? Sie kann doch nicht nur Frau Horisberger sein. Als die er sie sieht, was wiederum etwas anderes ist. Wie eine Ballerina hat sie sich umgedreht. Seine geistige Frau Horisberger, heisst das. Es existiert in seinem Kopf schon eine zweite Frau Horisberger, ihr Duplikat, das sich selbständig macht und sich mit seiner Idee einer Ballerina vermengt. Und würde er eine Ballerina kennen, werweiss, was ihm zu ihr einfiele. Sobald eine Ballerina in sein Leben tanzte, sich zu ihm herumdrehte, hineindrehte, wäre sie keine Ballerina mehr für ihn. Wer einem nahe genug kommt, verliert seine Hülle.
Ganz wunderbar fliessen die Füsse.
Man muss nur dem Wasser das Wissen entlocken. Ganz locker muss man sein. Überhaupt nehme man den nächstbesten Menschen zur Hand und siehe, im Seifenwasser hat er zwei Seiten, im Bergsee heisst das.
Eine Metapher muss stimmen. Nicht viel anders als ein Gegenstand: ein Oberes, Unteres, ein Hinten, Vorne, ein Links und ein Rechts...
.. und mischt sich mit dem Schattenbild, das man von sich selber hat. Mit den Bläschen über dem Seifenwasser. Über dem Wasser.
Schatten und Ringe. Aus denen man selber besteht. Kreise und Ringe... Aus zweien gibts viere, drei oder sieben. Wie aus einer Religion. Wenn kein strenger Gehorsam sie zusammenhält, sind flugs ein Dutzend neue daraus entstanden, wie Gischt. Ein Sohn ist ein Mensch, ein Sohn ist ein Gott. Dann ist er beides, dann adoptiert, handkehrum ist er ein Engel. Und schliesslich von einer ganz anderen Welt, siehe, nicht Sohn, etwas noch Höheres als Gott. Als jeder Gott. Über jeden Götterhimmel erhaben.
Am Ende ein Abgott, ein Götze und nichts mehr.
So hat alles nicht nur zwei, sondern beliebig viele Seiten, und ebenso man selbst: Schatten und Ringe. Bläschen. Man will einen Menschen vergöttern, auch er besteht aus diesen Ringen, ruhigen, gischtenen, heissen und kühlen, die sich immer grad bilden. Ideen und Blasen. Teufeleien, Doktrinen, Reklame. Klagen und Mauern, kichernde Konfession. Man ist, was es in einem denkt über sich. Und dem andern ist man, was es in dem über einen denkt. Anderes ist nicht ausdenkbar. Nur austauschbar. Man ist austauschbar und der andere auch. Welch ein antiromantischer Gedanke.
Wo war er stehengeblieben? Genau! (er hasst diesen modischen Ausdruck. Jetzt braucht er ihn schon selbst): der Grund liege ihm fast auf der Zunge, genau. Dieser Bergsee. Was also in seinem Leben bisher.. nein, über diese Redewendung muss er erst nachdenken, weil sie wohl falsch... setzt nicht die Rede von der Zunge voraus, dass jemand zuhören will, wenn man sagt, etwas liege einem auf der Zunge.. die Horisberger schubst sich in seinen Kopf hinein.... kommt mit der Zungenfrage in sein Leben gerutscht.. geblasen. Gebläterlet, er kennt kein Wort auf Hochdeutsch dafür. Die Horisberger züngelt wie ein Staubsaugerkabel, das nicht ganz im Kopf verschwindet.
Was man von einem Menschen im Kopf hat, oder besser: wen man eigentlich im Kopf hat statt dieses Menschen. Und kennt sich der selbst? Wie hat er sich selber im Kopf? So hält man, wen man kennt, als Gestalt im Kopf, die es garnicht gibt. So hält man sich für ein Wesen, das es nicht gibt, und ist dem andern ein Wesen, das man nicht kennt. Jedes Hirngespinst weist man von sich und schiebt es dem anderen zu.
Das Wasser summt.
Es liegt mir fast auf der Zunge, sagt er noch einmal zu sich, ja, sagt es zum Wasser, warum auch nicht. Oder denkt es zum Wasser hin, zu seinen eigenen Füssen hin, das macht keinen Unterschied. Schauen Sie, Frau Horisberger, es liegt mir auf der Zunge. Zu ihr spräche man so, da stimmte der Ausdruck. Er könnte eine Szene beschreiben, in der statt seiner ein Protagonist mit ihr spräche, zu dessen Füssen sie kauert, und könnte sie mit dem Satz kommentieren: es liegt ihm auf der Zunge, ihr zu sagen... Und dieses Ihm wäre nämlich das eigene lyrische Ich und damit etwas Allgemeines. Wie Ringe im Wasser. Schwebte über dem Wasser, aus dem alle schöpfen, als Geist. Nicht der Geist schwebt über dem Wasser, sondern irgendein lyrisches Ich.
Ein Gedanke bildet Bläschen, sobald man aus ihm schöpfen will. Jedes Ich bildet Bläschen, ein lyrisches sowieso. So dass man garnicht denken kann. Und die Bläschen zerstäuben einen, zerstäuben das Denken. Er hat den Ausdruck vergessen, und vergessen, worum es ihm ging. Und worum es ihm geht. Hat er denn Gischt im Schädel?
Einen Harfenton will er jetzt hören. Oder gehört haben. Oder es denkt ihm an das Gedicht mit dem Harfenton. Hat er es aufsagen müssen, horch von fern? Was ist aus den anderen geworden?
Alles Gischt. Das Wasser summt.
Statt einer Marimba ein langer Harfenton. Horisbergers Handy? Vielleicht sein Tinnitus. Etwas liege einem auf der Zunge. Nur dass es summt und nicht redet. Ein Harfentonchor. Er wechselt die Spur oder das Kabel und sucht wieder nach der Sache selbst und nicht mehr die Nebensache, also nach dem Grund der Sache. Der Sohn oder der Engel oder der Mensch. Wars nicht vor zwei Tagen, dass er darüber.. was hat er vor zwei Tagen gedacht? Oder gelesen? Oder drei? So kommt er noch weiter ab von der Spur. Ein Rollkabelsalat. Möglicherweise. Hört er, wenn er horcht, nicht doch eine Marimba?
Und nickt ein, die Füsse im Wasser.
Zum Frühstück, da war es schon Mittag, hat er ein junges Rehlein gefüttert. Das erzählt ihm eine innere Stimme. Seine Dokumentarfilmstimme. Dann ist es weggesprungen und nicht wiedergekommen. Es hätte das Ende sein sollen, in einem Paradies zu liegen am Morgen im Bett, der wunderbarste Moment.
Die Füsse im Wasser.
Weisst du, die Brustwirbel versteift mit Metall. Etwas Grosses wollte ich nicht mehr an mir machen lassen. Ich schreibe Dir dies, weil Du zu den Menschen gehörst, die für mich ein paar Jahre sehr wichtig waren. Unter lauter Fleissigen ein Müssiggänger. Die Dokumentarstimme.
Seine einzige Rettung besteht darin, einen Sprung zu wagen über das Wasser. Obwohl es so einlullend summt, ist es vergiftet und dunstet jetzt Gift und nicht Geist. Wer springen lernt, riskiert seinen Tod. So kann das nicht gemeint sein mit dem Fortschritt der Menschheit, dass da jemand sich weigert, im Tümpel zu bleiben. Ich habe gesehen, dass du deinem Schreiben treu geblieben bist; gratuliere! Auftritte da und dort, und ein Buch, das du veröffentlicht hast.
Die Füsse im Wasser.
Es ist alles so eingerichtet, wie mans grad braucht. Liebe, Ideen, Reklame. Aufschutt und Fatamorganen. Die Menschheit eine Strandpromenade. Führt sich an der Leine spazieren. Füttert die Rehlein. Sind das noch Bläschen?
Die Füsse.
Als Frau Horisberger kam, war nichts gewesen. Sie setzte sich ans Werk, kramte Schere und Feile hervor. Kennen Sie Mani Matter, Frau Horisberger? Es gibt doch dieses Lied von dem, der vom Amt aufgeboten wird, am haubi Nüni. Nid? Am Fritig vor de Nüne, irgändso. Und das Büro nicht findet, wo er hinmuss, durch die langen Gänge des Amtsgebäudes irrt und sich hoffnungslos in den Korridoren verläuft. Und niieme umechunnt. Sie kennen es auch? Ah, in der Schule? Genau, einmal links, einmal rechts und wieder zurück undsoweiter. Daran dachte ich eben, als Sie zurückkamen, zum Glück zurückkamen. Und ich, der umgekehrte Mani Matter, sitze da, bewege mich nicht, und mir läuft die ganze Welt und fast das Leben davon. Und Sie laufen mir auch noch durch einen Korridor davon.
Frau Horisberger reagierte nicht. Sie kehrte in sich und sprach nicht mehr ein Wort. Feilte an seinen Fussnägeln, knipste und fräste sorgfältig dem Nagelrand entlang. Professionell, das schon, liess sich von Aelligs Manimattergerede nicht drausbringen. Er wusste, dass sie es als Kritik verstanden hatte. Kichern hätte sie sollen. Zurückspotten. Aber sie schwieg, und er war sich zu schade, es anders zu versuchen mit ihr. Er sass ruhig im Stuhl, der nun fast ein Zahnarztstuhl war. Die Horisberger im mehlstaubweissen Kittel zu Füssen. Der Dokumentator kam wieder.
Ich danke Dir für deinen Brief, er bringt mich zum Weinen. Ich weiss nicht einmal, welche Regung vorherrscht: ein Glück, eine Trauer, die Fülle des ganzen Lebens. Es ist dir vielleicht auch so ergangen: man fühlt sich weniger getrieben ab einem gewissen Alter, die Fähigkeit zu geniessen nimmt nicht ab, sogar zu. Aber die Begehrlichkeit muss nicht nach allem mehr greifen und zugreifen. Ich bin mit meinem Leben im Einklang, noch nie so sehr wie heute, und es kann morgen zu Ende sein und ich wäre sehr einverstanden.
Und nun bist Du an Dein Ende gekommen. Es hat kein schöner Traum Dich aus dem Schlaf tragen und mitnehmen wollen, also trägst Du Dich selber hinüber. Ich bewundere Dich.
Ich will am liebsten schreiben: leb wohl. Das geht ja nicht. Aber ich empfinde es so. Ich wünsche Dir beim Hinübergehen den wunderbarsten Moment Deines Lebens. Ich umarme dich. Ich liebe Dich.
In seinem gedimmten Licht lag der Raum auf der Lauer. Stumm war Frau Horisberger zu Füssen fast fertig geworden. Er hatte sie vertäubt, und ihm fiel nichts ein, was er mit ihr hätte reden können. Er wäre sich jetzt nicht mehr zu schade gewesen. Es ging nicht. Wie ein stümpernder Dichter vor dem weissen Blatt Papier kam er sich vor. In seinem Schädel baumelten nur lose Begriffe, Dummheiten, und platzten. Eine von Nonnen übersüsste Form der Wehklage, das war so eine. Aus einem lyrischen Ich waren irgend Eichendorffwonnen und daraus die übersüssten Nonnen geworden. Er musste auf der Hut sein und solche Dinge für sich behalten. Wie würde die Horisberger erst reagieren, wenn er von übersüssten Nonnen zu palavern begänne? Je leerer sein Kopf, desto mehr Platz war für Peinlichkeiten geschaffen. Mit wenigen Dingen kam er schlimmer durcheinander als mit allem aufsmal, weil sie jetzt Zeit hatten, sich in ihm auszudummen.
Keine Schneise tat sich auf, keine Lichtung, wo die Horisberger auf Aellig und er auf die Horisberger hätte zugehen können. Jeder steckte in seinem Dickicht. Als die Behandlung endlich abgearbeitet war, brach sie ihr Schweigen und bot ihm an sitzenzubleiben, um ihm Socken und Schuhe anzuziehen, und er, peinlich davon berührt, lehnte es ab. Das wäre ihm noch!
Wie er aus dem Studio tritt, mit klingelndem Spiel durch die Tür, ein Lieferwagen, fernes Gebell und zwei Kinder, die auf dem Trottoir Schoggitaler verkaufen, aber die wenigen Passanten schauen nicht hin; sich vor dem Schaufenster den Kragen richtet und von dem, was hinter ihm liegt, nicht mehr als von einem Steinwurf im See übrigbleibt, ein paar Ringe, die der See allmählich verschluckt; und plötzlich mit scheuen Augen die zwei vor ihm stehen, um Geld für eine gute Sache zu sammeln, die ihn nicht interessiert, und Schokolade untersagt ihm der Arzt; da kauft er doch einen Taler. Nehmt nur das Geld, will er erst sagen, behaltet den Taler; er sagt es nicht, sie sollen stolz auf sich sein. Dann ziehen sie weiter, er winkt ihnen nach, etwas scheu. Und schämt sich ein wenig für seine Erziehungsidee.
An der Haltestelle wird schon gewartet, er tritt hinzu. Der Bus kommt. Was soll er tun mit dem Taler? Er löst ihn aus der Folie und steckt ihn ganz in den Mund, noch bevor er das Trittbrett besteigt, und das mit Genuss, schliesslichamend.


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