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Ignazio Cassis und die Suche nach dem Weg

Aktualisiert: 20. Jan. 2022

Er habe, führt ihn Moderatorin Gentinetta 2019 in den „NZZ Standpunkten“ ein, als Bundesrat „einen neuen Stil etabliert und eine hohe Dynamik entfaltet“. Cassis, kaum als Aussenminister im Amt, hatte da mit Holterdipolter schon die Gewerkschaften so vergrätzt, dass sie ihm die Diskussion über ein EU-Rahmenabkommen verweigerten, und die flankierenden Massnahmen und insbesondere den Lohnschutz, die rote Linie auch seines eigenen Bundesratsgremiums, als „fast religiöse Frage“ öffentlich lächerlich gemacht. Schlechter Start also im Kollegium, schlechtes Anschwingen mit dem politischen Gegner, ohne den, die SVP wehrt sich sowieso gegen alle vernünftigen Verträge mit der EU, kein Abkommen mit Brüssel an der Urne zu gewinnen ist. Das zerschlagene Geschirr ist noch kaum aufgewischt, da hängt er sich in den „Standpunkten“ flink ein weisses Mäntelchen um, lobt den Lohnschutz als „Pièce de Résistance“ und zeigt sich im Namen des Bundesrates froh, „dass die Sozialpartner wieder bereit sind zu diskutieren.“

Warum er habe Bundesrat werden wollen? stellt sich Cassis selbst die Frage. Weil er gestalten möchte. „Wenn man gestaltet, stört man. Aber ich hoffe, dass es eine vorübergehende Störung ist, dass man mit dem Resultat zufrieden ist.“ Nun, das Rahmenabkommen ist inzwischen vollständig an die Wand gefahren, die Verhandlungen mit der EU sind abgebrochen. Gujer, der zweite Moderator, konfrontiert ihn damit. Cassis windet sich heraus. Fünf Jahre Verhandlungen über das Rahmenabkommen seien eine vergiftete Geschichte. Für noch mehr Gift habe die Masseneinwanderungsinitiative gesorgt. Dieses Erbe sei ihm mit dem schönen Departement zugeteilt worden. Dann habe man im Bundesrat den Reseat-Knopf gedrückt, um neu überlegen zu können: „Worum geht es überhaupt? Warum verhandeln wir überhaupt? Was will man erreichen?“ Der dynamische Aussenminister weiss es offenbar auch nicht.


Er sei kein Chefdiplomat, sondern ein Politiker, streicht er hingegen heraus. Darum sei sein Stil der Kommunikation Klarheit und Einfachheit. Das sei „nicht klassisch“ für die diplomatische Sprache. Und da ist er nun bei seinem Lieblingsthema angelangt, er redet oft und gerne davon. In der Schweiz habe ein Aussenminister keine diplomatische Karriere gemacht wie meist in allen anderen Ländern, wo ein Regierungschef den Aussenminister bestimme, den er sich aus dem Kreis erfahrener Diplomaten aussuche. Nun ja, der Österreicher Schallenberg hat eine diplomatische Karriere gemacht. Di Maio aus Italien war Jurist, Webmaster und Baarkeeper, bevor er Aussenminister wurde, seine Vorgänger Milanesi und Alfano ebenfalls Juristen, der eine Richter und Beamter, der andere Berlusconis Anwalt. Die Belgierin Wilmès Kommunikationswissenschaftlerin, ihre Vorgänger Juristen und Berufspolitiker. Der Franzose Le Drian Historiker und Lehrbeauftragter, sein Vorgänger Ayrault Germanist, Bürgermeister und Premierminister. Unter den letzten vier Aussenministern Grossbritanniens gab es einen Journalisten, einen Unternehmensberater, Sprachlehrer und Firmengründer, tatsächlich auch einen Diplomaten und eine Ökonomin, die aktuelle Amtsinhaberin Liz Truss. Der Deutsche Heiko Maas ist Jurist und war schon jung Berufspolitiker, wie viele andere auch. Und Baerbock kommt vom Völkerrecht.

Cassis redet nicht Klarheit, sondern Blech.


In der „grossen Präsidentenrunde“ des Schweizer Fernsehens, der Arena vom 7. Januar 2022, antwortet der frischgebackene Bundespräsident Cassis auf die Frage, warum nach fast zwei Jahren Bekämpfung der Coronapandemie in den Schulen noch keine Filteranlagen eingebaut seien: „Bei dieser Filtrierung, Luftfiltrierung undsoweiter“ sei noch nicht alles so klar, was die Wirksamkeit und den Kosten-Nutzen-Effekt betreffe „undsoweiter, [wir werden] gerne alle technischen Mittel, die uns helfen, die Zirkulation des Virus zu reduzieren und somit die Ansteckungsrate zu senken, solange die medizinische Versorgung, vergessen wir nicht: das Ziel ist, die Patienten zu betreuen, dann werden wir [die] natürlich gerne anschauen, das ist so.“ Ein Diplomat nach seiner Vorstellung hätte es bestimmt nicht gewundener formulieren können.


Zum Thema EU holt Cassis zu einer Tour d'Horizon aus, die konventioneller und substanzloser nicht zu haben ist. Man habe es mit den Wirtschafts- und Lebensräumen der Nachbarländer zu tun. Warum? Aus historischen Gründen. Wir sprächen ja im Tessin die gleiche Sprache wie in Italien, in der Deutschschweiz wie in Deutschland und Österreich und in Genf wie in Frankreich. Also gehörten wir zum selben Kultur- und Sprachraum wie die Nachbarländer, hätten aber entschieden, eine eigene Willensnation zu sein. „Und in diesem Spagat – zugehörig, aber doch anders zu sein – bewegen wir uns seit dem Anbeginn der Zeit in der Schweiz.“ Und diese Zeit sei eine Reise voller Höhen und Tiefen.


Ich habe in der indirekten Wiedergabe ein paar ungeschickte Formulierungen Cassis' korrigiert, wenn sie sich daraus ergeben, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist. Es sind nur ganz wenige, zum Beispiel sagt er Höhen- und Tiefenreise statt Reise voller Höhen und Tiefen. Es geht mir darum, an seinem Beispiel das typische Geschwätz eines Politikers zu zeigen, der mit Phrasen, Floskeln und Ausweichsmanövern um den heissen Brei herumtanzt. Wer so redet, wird sich auch in seinen Taten nach allen Seiten absichern und lieber nichts als das Falsche tun. Ausser er tritt aus lauter Ignoranz und Inkompetenz in den Fettnapf.

Durch das Inkrafttreten der Bilateralen, geht es im Jargon du Cassis dann weiter, hätten die Beziehungen mit der EU einen Aufschwung erlebt. Und jetzt seien wir in der Krise. Wir würden einerseits gerne auf diesem Weg bleiben, aber die EU sage Nein, dieser Weg sei nur in der Perspektive eines Beitritts gegeben gewesen. Aber wir wollten der EU nicht beitreten, „ergo müssen wir Wege finden, diesen Weg aufrechtzuhalten.“ Um den Dialog mit der EU zu pflegen, solle ein Kanal geschaffen werden. Diesen wolle man strukturieren, um genau diesen gemeinsamen Weg zu strukturieren. Der Bundesrat sei daran zu definieren, wie man die verschiedenen Elemente so zusammennehmen könne, „dass wir doch eine Position haben und aus der Schnittmenge zwischen den zwei Positionen ein gemeinsamer Weg gesucht wird.“

Dem Vorhalt des Moderators Brotz, das seien Worthülsen, begegnet Cassis so: „Ja, das sind Worte im Moment, aber wenn Sie nicht diesen Weg vor Augen haben, dann können Sie den nicht gehen.“

Schliesslich versucht Brotz, Cassis zu stellen: Wann er sich denn mit der Kommissionspräsidentin treffe? „Sobald wir etwas Konkretes zu besprechen haben, werden wir uns treffen, auf der richtigen Stufe und auf der richtigen Flughöhe.“


Vermutlich in den Wolken. Die wolkige, dunstige Sprache dazu beherrscht Cassis perfekt.




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