Schwarzfahrer
- Caspar Reimer
- 21. Mai
- 2 Min. Lesezeit
Anfangs hätte er erwischt werden können, passierte ihn der Schaffner doch Schulter an Schulter. Eine Stunde würde die Fahrt andauern und während dieser Zeit galt es, in Bewegung zu bleiben. Die vielen Menschen im Zug gewährten ihm Schutz. Er beherrschte das Geschick der Flucht exzellent, verteilte sich von Wagen zu Wagen, taktierte Zeiten und Wege. Er war Meister der Zerstreuung, dem Geschehen stets einen Schritt voraus, spürte die Gefahr und legte die Fährte am falschen Ort.
Doch so gewieft er sich anstellte, so vergrämt war ihm das Herz seines Wandels wegen. Das trügerische Spülen der Toilette, wenn er glaubte, auf dem Gang die Stimme des Schaffners zu hören, der Blick in den Spiegel, das leere Portemonnaie, die längst abgetragenen Schuhe und jeweils die Einsamkeit bei der schalen Freude, gerade noch einmal davongekommen zu sein. Von den Fahrgästen, die seelenruhig und wohlgenährt in ihren Polstern sassen, plauderten und lachten, trennte ihn die ganze Welt. Wie gern hätte er sich dazugesetzt, Zeitung gelesen und dem Schaffner gelassen den Fahrschein gezeigt. Aber das war ein anderes Leben.
Doch plötzlich schien der Zug die Richtung zu verändern. Und die Menschen verschwanden einer um dem anderen spurlos. Wo zuvor der Geschäftsmann gesessen hatte, klaffte jetzt das rohe Polster. Wo die jungen Mütter geschäkert, die Kinder gejauchzt hatten, war jetzt das leise Grollen der Räder zu hören. Und während zuvor noch die untergehende Sonne an den Fenstern gezüngelt hatte, düsterte draussen die Nacht. Kopf um Kopf waren alle Fahrgäste abgefallen, liessen ihn, den Schwarzfahrer, mutterseelenallein.
Die Unmöglichkeit, die ihm widerfuhr, veränderte schlagartig den Blick auf die Welt und sich selbst. Er wollte den Schaffner finden, ihm sagen, dass er zwar kein Ticket habe, aber froh sei, einen Menschen zu treffen. Er würde tief durchatmen, Busse tun, seine Schulden begleichen und sein Leben ändern. Verdammt endlich ändern. Doch wie er auch suchte, verzweifelt suchte: Er blieb der einzige Mensch im Zug, der dahinfuhr in schwarzer Nacht.
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