Über Religion. Oder beinahe.
- Daniel Costantino
- 22. Feb. 2023
- 5 Min. Lesezeit
Welchen Begriff ich auch immer in die Runde würfe für die Empfindung, den Umstand, der mich beschäftigt, die Geister würden sich streiten darüber und scheiden, je wes Kind sie wären. Sie bestückten mit Engeln die Wolken, wie Feen und Drachen liessen sie Tote herniederschweben, in schönen Gärten machten sie Gott oder Hera oder einen verschollenen Lama lustwandeln; sie lösten die Seelen, die Schatten, die Hölle begänne zu knistern, Licht- und Teufelsgestalten mit ihnen, ein goldener Einband einer Scharia tanzte über dem ewigen Feuer.
Was immer ich sagen würde, wäre missverständlich, ich habe mich mit religiösen, spirituellen, schamanistischen Dingen nur beschäftigt, soweit ich daraus Erkenntnisse über Herrschaftsstrukturen gewinnen konnte. Nähme ich dergleichen ein Wort her, würde ein Anderer sich etwas vom oben Beschriebenen vorstellen, vorspiegeln, etwas bahnte sich an in ihm, was solchen Ideen und Gestalten zugrunde liegt, ein Fotonegativ, von dem sich schon vor dem Abzug und aller Ausschmückung sagen lässt: das ist es!
Ich aber meine nur einen Rausch, eine Verzückung, eine Erhebung, nicht Transzendenz; eine Fantasie meiner Allmacht, die mich von den Fesseln des mausgrauen Daseins befreit und zum Träumen und Schwärmen, zum Fliegen verlockt. Etwas Entgrenzendes, Übergelagertes, was es möglich macht, frühmorgens auf dem Balkon zu stehen und den Morgenverkehr zu bestaunen, als wäre ich noch der vierjährige Junge, der ich einmal war; und dieses Gefühl, dieses Wahrsein im nicht Wahrseinkönnen, als hinge die Existenz noch an ganz anderen Fäden und ich zöge mich daran aus mir selber heraus in die Ferne und Weite oder würde zusammengezogen und ruhte in mir, und die Leere in mir und das Einundalle in mir; dieses Gefühl: nicht Religion, nicht spirituell, es wird mich nicht gefügig machen und kniefällig; es läuft auf den Satz hinaus: ich brauche keine Lehren und Kulte, das Leben ist mir staunenswert und heilig genug.
Wem Sprache gegeben, der spricht dem Brauche nach; Sprache ist Allgemeingut. Einen Begriff in ein Verhältnis zur eigenen Person setzen, eine lebenslange Beschäftigung, ihn vereigentlichen; durch Sprache das Eigene finden, das Eigene durch das Allgemeine, das bedeutet: durch das Andere, durch das, was nicht das Eigene ist, ausdrücken, denn Sprache ist Allgemeingut; und Sprache heisst: das Eigene finden; was treibt man da eigentlich, da man ebensogut das Andere ist wie das Eigene, für jeden Anderen das Allgemeine? „Das Persönliche“, lese ich bei Koestler, von wem er’s hat, weiss ich nicht, vom Allgemeinen, vom Eigenen, vom Anderen: das Persönliche, was sich „auflöse wie das Salzkorn im Meere“, zugleich aber scheine das unendliche Meer in dem einen Salzkorn eingefangen; man könne auch sagen Ekstase, Versenkung, man könne sagen, so Koestler, „ein ozeanisches Gefühl“, vielleicht Freud, vielleicht Rolland, vielleicht ein Allgemeingut.
Das Eigene finden. Einen Anker setzen und die Kisten öffnen, die man auf langer Entdeckungsreise sich eingehandelt und an Bord geholt hat. Was hat man hergegeben dafür? Manches in den Kisten ist inzwischen verstaubt, verrostet, wertlos geworden, anderes im Kurs gestiegen. Wo ist das Kind hingegangen untertags, das man gewesen? Wo sind die inneren Schätze geblieben? Was hat man hergegeben?
Man fühlt sich getragen, verstossen, man schreibt es dem Lebensgefühl zu; gedrängt, behindert – das ist der Alltag, eine andere Ebene. Sagt man. Sage ich das? Das Religiöse, das eigentlich Religiöse eines Menschen, ist nicht der Alltag. Ich muss das so sagen, ich, um Ordnung in die Dinge zu bringen, sonst kann ich kaum wissen, wovon ich rede. Die Gesetze der Macht und der Herrschaft, sie gelten für alle Milliarden, die wir sind, sollen nicht zum Religiösen gehören, sollen zu den Religionen gehören, die auf den Fahnen der Könige und Päpste wehen und all der traurigen Bhagwans der Menschheitsgeschichte, damit ihre Macht, ob sie selber gläubig sind oder nicht oder nur halb, die allerhöchste Autorität repräsentiere. Von den Gesetzen der Macht und der Herrschaft also abgesehen, Kauf und Lauf der Welt zur Seite geschoben, auch die Parolen im Namen des Volkes, der Freiheit, des Rechts, all diese Brandzeichen und Signaturen, Imprägnaturen beiseite: Religion als Lebenselend, Lebensglück, als ihr Pathos, ihre Musik, als die Begleitmusik unseres Lebens. Diese Musik seit Kindheitstagen. Eduard Kaeser ergreift ein „ungläubig staunender Schauder, dass es mich gibt.“
Das meine ich. Nicht, was mit Kirchen und Gläubigen zusammenhängt, mit Gut und Böse und Sünden, mit definierten Figuren und Inhalten, was einer Austreibung natürlicher und milliardenfach individueller Religiosität gleichkommt, in deren Folge nun der Gehorsam das Gewissen ist, ins Gewissen gepfuscht worden ist.
Ist mit dem Tode alles zu Ende? Ein kantiger Themenwechsel nach all dem Gesagten. Eine rhetorische Frage. Ob man husch noch ein bisschen Geist oder Seele, ein verblassender Hauch, ein Schatten der Nacht, die man um sich herum eine Zeit lang noch spürt? Ein übers Wasser geschieferter Stein, der jetzt versinkt und an der Oberfläche noch ein paar Ringe zieht?
Aber als ungeschieferter Abklatsch versinken, plumper Abdruck, bloss vom Fotonegativ ein Abzug im Leben gewesen sein?
Man erfüllt seine Pflicht. Pflichtgefühl heisst das Gespür dafür, ihr Inhalt und Drang; es weiss, was Sache ist und was es geschlagen hat. Wie stünde man da vor denen, die fordern, und wären sie mausetot! Oder hiessen Gesellschaft, und einer daraus ist man selber für jeden daraus. Den Einen drückt’s, den Andern trägt’s empor als wie seinen Geist über die Wasser; seine Pflichterfüllung ist Stolz, ist Sieg, ist Schweben über den Andern, die mühsam schwimmen, manche in der Angst, unterzugehen. Das schwebende Lebensgefühl des Stolzes, oder die Macht der Verliebtheit. Einmal mit, einmal gegen die Ordnung. Was den Einen erhebt, drückt den Andern darnieder, selbst die Liebe fürchtet er. Wer sein Versagen vor Augen hat, schafft sich seine Verdammnis, sein eigenes jüngstes Gericht, er mag es klar oder konfus vor Augen haben. Sein Leben, mit oder ohne den Weihrauch einer Religion, hat nichts Profanes mehr; sein Profanes hat eine eigene Weihe bekommen, ein eigenes Pathos, seinen Fluch. Nichts muss sich nach dem Tode erweisen, das Richtschwert im Halfter zuckt über dem Leben.
Und die Welt geht kaputt, wer bedauert es nicht. Bedauert man wirklich die Welt, bedauert man nicht vielmehr sich selbst, als einen, der Mensch sich heisst, Menschheit sich fühlt? Die Welt ist der Mensch, das Ich, seine Kraft, seine Herrlichkeit. Was bedeutet Planet, was bedeutet sein Klima, das Schneeglöckchenweiss, das aus dem atomaren Winter hervorlugt, unerlöst in der Kälte des Universums, was die Rettung der Welt, ein lächerlicher Begriff mit einer feierlichen Note, einerlei, ob Triumph oder Katastrophe am Ende uns leuchten, was wäre ein Himmel ohne die Hölle. Die Welt geht unter und wir, mit dem ungläubig staunenden Schauder, dabeizusein, mit ihr.
Transzendieren, aufblasen, Ein und Alles werden; und das Gegenteil, wie heisst es? schrumpfen, vom Ein und Allen geschlachtet, verschlungen, verschluckt sein? Und der aufgebahrte Tote, die Atmosphäre um ihn, seine Aura? Noch scheint er nicht aus dem Kreislauf gefallen, noch spricht man zu ihm. Ist es schade um ihn, ist es schade um uns? Kann er fühlen, dass er gerade noch ist? Heiter scheint er und ernst, edel, entschwebt. Wie fühlt sich die Auflösung an?
Im Wir sind wir eingeschlossen. Im Eingeschlossenen nicht wir. Mit jedem unserer Tode ist die Welt untergegangen.

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